Standardisieren bis der Arzt kommt

Wie war das nochmal mit dem Konzept „Einer für alle“?
Ein Land entwickelt eine IT-Komponente – und viele andere nutzen sie einfach mit. Tolle Idee. Kostensparend, effizient, modern. Aber in der Praxis? Schwierig.
Denn alle finden Standardisierung gut – solange sie nicht selbst betroffen sind. Sobald es an die eigenen Prozesse geht, heißt es: „Das passt bei uns leider nicht.“ Ein bisschen wie bei großen Infrastrukturprojekten. Da hat sich längst ein Begriff etabliert: Nimbys – Not in my backyard. Gegen das Projekt ist man nicht, nur bitte nicht vor der eigenen Haustür.
Genauso verhält es sich oft in der Verwaltung. Standardisierung? Gerne. Aber nicht bei uns.
Wenn jede Kommune ihr eigenes Terminportal baut
Ein besonders anschauliches Beispiel: die Online-Terminvergabe. Kaum eine Behörde kommt ohne sie aus – vom Bürgeramt bis zur Ausländerbehörde. Und doch gibt es Dutzende Eigenentwicklungen, Einzelvergaben und lokale Speziallösungen. Warum eigentlich?
Die Grundfunktionen sind fast immer gleich: Verfügbare Termine anzeigen, Buchung ermöglichen, Bestätigung verschicken, ggf. Fachverfahren oder Authentifizierungssysteme anbinden. Warum also nicht eine einzige, modulare Lösung, die für alle funktioniert?
Und wenn jeder seinen eigenen Ausweis baut
Noch deutlicher zeigt sich das Problem bei digitalen Identitäten. Mit der BundID steht eigentlich eine zentrale Lösung bereit: interoperabel, ausbaufähig, sicher, nutzbar für nahezu alle digitalen Verwaltungsleistungen.
Trotzdem entstehen parallel weitere Systeme: BayernID, GesundheitsID, ID-Wallets in einzelnen Modellprojekten. Jeder mit eigenem Konzept, eigenem Login, eigener Nutzerführung. Das Ergebnis: Verwirrung bei den Bürger:innen, unnötige Kosten bei der Entwicklung, Brüche in der User Journey.
Dabei ist klar: Eine funktionierende digitale Verwaltung braucht eine einheitliche Identitätsschicht. Wenn selbst grundlegende Funktionen wie Anmeldung, Authentifizierung und Berechtigungsnachweise nicht standardisiert sind, scheitert jede Skalierung im Ansatz.
Auch hier gilt: Eine Standardlösung darf nicht alles diktieren, aber sie muss die Basis für gemeinsame Infrastruktur bilden. Wer zusätzliche Anforderungen hat, kann darauf aufbauen – nicht drumherum entwickeln.
Standardisierung ist kein Selbstzweck – sie ist notwendig
Die Verwaltung steht seit Jahren unter Druck: Fachkräftemangel, Bürokratiekosten, steigende Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger, digitaler Rückstand. Zu lange wurde diskutiert – jetzt braucht es Entscheidungen.
Und eine davon lautet: Standardisierung ist nicht optional. Sie ist eine zwingende Voraussetzung dafür, dass die Verwaltung in Bund, Ländern und Kommunen handlungsfähig bleibt.
Das bedeutet nicht, dass alle Unterschiede ignoriert werden. Es heißt aber, dass wir uns ehrlich fragen müssen:
„Wie viel Individualisierung können wir uns noch leisten – und wie viel Standardisierung ist möglich?“
Diese Frage gilt nicht nur für kommunale Fachämter. Sie betrifft genauso die föderalen IT-Dienstleister, Landesministerien und Bundesbehörden. Jede Individualanforderung gehört auf den Prüfstand. Ist sie wirklich notwendig – oder kann sie durch einen gut konfigurierbaren Standard ersetzt werden?
Was heute noch Ausrede ist, wird morgen zum Risiko
Es gibt nachvollziehbare Gründe, warum Standardisierung schwer ist:
- Prozesse unterscheiden sich,
- Es gibt unterschiedliche gesetzliche Anforderungen
- Datenschutzvorgaben variieren,
- Zuständigkeiten sind komplex,
- Software muss barrierefrei, sicher, interoperabel und performant sein.
Aber es gibt auch Lösungen:
- Modulare Systeme, die sich anpassen lassen.
- Offene Schnittstellen für Fachverfahren.
- Zentrale Hostingmodelle, die trotzdem Datenschutzkonformität ermöglichen.
- Gemeinsame Entwicklung über das „Einer für alle“-Prinzip.
- Open-Source-Ansätze mit verlässlicher Governance.
Mit der BundID gibt es bereits eine zentrale Identitätslösung – sie muss nur konsequent genutzt werden.
Fazit: Nicht ob, sondern wie
Standardisierung bedeutet nicht Gleichmacherei, sondern Wiederverwendbarkeit, Effizienz und Geschwindigkeit. Gerade bei Querschnittsanwendungen wie Terminvergabe, digitalen Identitäten, Bezahlfunktionen oder Nutzerkonten müssen wir endlich aufhören, für jede Kommune das Rad neu zu erfinden.
Wer weiterhin auf individuelle Lösungen pocht, muss sich die Frage gefallen lassen: „Tragen wir damit wirklich zur Leistungsfähigkeit der Verwaltung bei – oder zementieren wir nur alte Muster?“
Jetzt ist die Zeit, die richtigen Fragen zu stellen. Und mutige Entscheidungen zu treffen.