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Wiederverwendung beginnt im Kopf – nicht im Repository.

Blog für Gesellschaft und Digitalisierung

Wiederverwendung beginnt im Kopf – nicht im Repository.

Wiederverwendung in der Verwaltung ist mehr als eine technische Entscheidung – sie ist Ausdruck von Reife, Struktur und Verantwortung im digitalen Staat. Sie bedeutet, vorhandene Lösungen konsequent zu nutzen, bevor neue beschafft oder entwickelt werden.
Diese Haltung vermeidet Doppelarbeit, senkt Kosten und stärkt strategisch die Handlungsfähigkeit der Organisation.

Wiederverwendung kann sich dabei auf sehr unterschiedliche Ebenen beziehen:
auf Software-Artefakte und Plattform-Bausteine, auf Prozesse, Methoden, Organisationsstrukturen oder Governance-Modelle.
Gerade in der Verwaltung spielt die Wiederverwendung von bewährten Abläufen, Rollenmodellen oder Prozessketten eine zentrale Rolle für Effizienz und Konsistenz.
Der Fokus dieses Beitrags liegt jedoch auf der technischen und organisatorischen Wiederverwendung – also auf Software-, Plattform- und Schnittstellenebene.
Fragen der Prozess- und Strukturwiederverwendung werden hier bewusst nicht vertieft, da sie ein eigenes Thema der Organisationsentwicklung darstellen.

Wiederverwendung umfasst somit Module, Komponenten und Plattform-Artefakte, die unabhängig vom Fachkontext mehrfach nutzbar sind – von UI-Bausteinen über Workflow-Vorlagen bis hin zu Low-Code-Prozessmodellen.
Auch die Fähigkeit, standardisierte Schnittstellen zu konsumieren und bereitzustellen, gehört dazu.
So entsteht eine Architektur, die Effizienz, Sicherheit und Flexibilität vereint – und gleichzeitig die Komplexität reduziert.

Wiederverwendung ist weit mehr als ein technisches Prinzip. Es ist ein kultureller Reifegrad.
Wer wiederverwendet, anerkennt automatisch, dass es irgendwo bereits etwas gibt, das gut ist – vielleicht sogar besser als die eigene Idee. Das erfordert Demut, Offenheit und die Bereitschaft, die eigenen Lösungen zu hinterfragen. In einer modernen Verwaltung ist das Überwinden des „Not-Invented-Here-Syndroms“ ein echter Führungsschritt: Nicht die Herkunft einer Lösung zählt, sondern ihr Nutzen. Gute Führung fördert diese Haltung aktiv und macht Wiederverwendung zu einem strategischen Prinzip, das Standards stärkt und Ressourcen schont.


1. Wiederverwendung als organisatorische Kultur

In vielen Verwaltungen entsteht Wiederverwendung eher zufällig.
„InnerSource“-Konzepte zeigen, wie sich das systematisch verändern lässt.
Sie übertragen die Prinzipien offener Entwicklung – Transparenz, Beitrag, gemeinsame Verantwortung – in den Behörden- und Konzernkontext.
Ziel ist, intern dieselbe Offenheit zu erreichen, die Open Source im Außen längst bewiesen hat.

Beispiele aus Verwaltung und Wirtschaft:

  • PayPal, Bosch, SAP: etablierte InnerSource-Kulturen mit offenen Repositories, Maintainer-Rollen und Reuse-Katalogen.
  • Europäische Kommission: OSPO als Governance-Rahmen für Wiederverwendung.
  • ZenDiS: mit openCoDE erste offene GitLab-Plattform für Behörden in Deutschland.
  • Land Berlin: Aufbau eines Low-Code-Basisdienstes, auf dem standardisierte Anwendungen entstehen.
  • Land Niedersachsen: Entwicklung modularer Plattform-Bausteine zur ressortübergreifenden Nachnutzung.
  • Freistaat Sachsen: Kombination von Pega (Low-Code/Workflow) mit SAP S/4HANA – hybride Plattform-Architektur mit Wiederverwendungslogik.

Diese Beispiele zeigen: Wiederverwendung ist kein Randthema, sondern das Fundament moderner Digitalarchitekturen.


2. Best Practices für Wiederverwendung

Erfolgreiche Organisationen verbinden Wiederverwendung mit klarer Governance, offener Kommunikation und verbindlichen Zielen.

Governance, Qualität, Sicherheit und Schnittstellen:
Governance ist das Fundament erfolgreicher Wiederverwendung.
Sie sorgt für klare Regeln, definierte Zuständigkeiten und überprüfbare Qualität – und sie macht sichtbar, wie Software, Plattformen und Schnittstellen zusammenspielen.

Ein zentrales Reuse- oder Open-Source-Office kann dabei Teil eines Architektur-Office sein.
In dieser Struktur wird Wiederverwendung nicht als technisches Nebenprojekt geführt, sondern als Bestandteil der strategischen Architektursteuerung.
Das Architektur-Office verantwortet Querschnittsstandards, Zielbilder und Plattform-Governance – und das Reuse-/Open-Source-Office ergänzt diese Perspektive um Nachnutzung, Transparenz und Community-Management.
Gemeinsam sichern sie, dass Wiederverwendung in Architekturentscheidungen, Design-Guidelines und Beschaffungsprozessen verankert ist.

Maintainer-Rollen sichern Qualität, Reviews und technische Freigaben – sie sind die Schlüsselfunktion zwischen Entwicklung, Plattform und Fachbereich.

Gute Governance endet jedoch nicht bei Struktur, sondern schafft Verbindlichkeit und Transparenz.
Dafür werden Wiederverwendung, Qualität, Sicherheit und Schnittstellenmanagement in OKRs (Objectives and Key Results) eingebettet.
OKRs machen Governance messbar: Sie übersetzen Prinzipien wie Standardisierung, Security, Interoperabilität und Reuse in überprüfbare Ergebnisse – etwa Reuse-Quoten, API-Qualität, Sicherheits-Scans oder Beitragshäufigkeit.
So entsteht Steuerung durch Wirkung, nicht durch Kontrolle.

Governance umfasst zugleich die Sicherung von Qualität und Sicherheit im gesamten Lebenszyklus:
Automatisierte Tests, Security-Scans, Review-Prozesse und standardisierte CI/CD-Pipelines schaffen Vertrauen.
Jede Komponente durchläuft denselben Freigabeprozess, inklusive API-Validierung, Abhängigkeitsanalyse und Security-Checks.
Damit wird Qualität nicht nachträglich geprüft, sondern laufend gesichert – als Teil der Organisation, nicht als Zusatzaufgabe.

Zentraler Bestandteil ist die API-Governance.
Jede Anwendung folgt einem API-First-Prinzip, nach dem Komponenten standardisierte, dokumentierte und versionierte Schnittstellen bereitstellen müssen.
Diese Schnittstellen werden aktiv verwaltet – mit Policies für Authentifizierung, Namenskonventionen, Release-Zyklen und Sicherheitsprüfungen.
So werden APIs zu erstklassigen Governance-Objekten, die Interoperabilität und Wiederverwendung gewährleisten.

Das Ergebnis ist ein konsistenter Rahmen, in dem Wiederverwendung technisch, organisatorisch, sicherheitlich und strukturell gesteuert wird.

Discovery und Contribution:
Ein interner Artefakt-Katalog macht sichtbar, was vorhanden ist.
Komponenten werden mit Metadaten (Zweck, Reifegrad, Verantwortliche, API-Definition, Lizenz) beschrieben.
Pull-Requests und Reviews folgen klaren Regeln, Beiträge werden dokumentiert und anerkannt.

Incentives und Kapazitäten:
Wiederverwendung braucht Zeit und Anerkennung.
Teams erhalten definierte Budgets für Pflege, Tests und Beiträge.
Erfolge werden sichtbar gemacht – etwa durch Kennzahlen, interne Awards oder Integration in OKRs.
OKRs sorgen hier für Verbindlichkeit: Sie stellen sicher, dass Wiederverwendungsziele nicht abstrakt bleiben, sondern Teil der individuellen und organisatorischen Erfolgsmessung sind.

Beschaffung und Integration:
Auch die Vergabe folgt diesem Denken.
Bevor eine externe Lösung beschafft wird, wird geprüft, ob eine gleichwertige Komponente existiert.
Verträge enthalten Reuse-Klauseln: Anbieter müssen Schnittstellen offenlegen und Wiederverwendung ermöglichen.

Community und Kommunikation:
Wiederverwendung ist Beziehungsarbeit.
Regelmäßige Maintainer-Calls, offene Foren und Communities of Practice stärken Vertrauen und Lernfähigkeit.
Wer gemeinsam pflegt, spart dauerhaft.


3. Erfolgsmessung und Ableitungen

Erfolg entsteht, wenn Wirkung sichtbar wird.
Wichtige Messgrößen sind:

  • Reuse-Quote: Anteil neuer Module, die bestehende Komponenten nutzen. Eine hohe Quote zeigt funktionierende Discovery-Mechanismen; eine niedrige deutet auf fehlende Transparenz oder Vertrauen hin.
  • Time-to-Reuse: Zeit von der Entdeckung bis zum Einsatz einer Komponente. Lange Zeiten weisen auf unklare Dokumentation oder aufwändige Freigaben hin.
  • Contribution-Aktivität: Zahl eingereichter und akzeptierter Beiträge. Stagnation signalisiert mangelnde Anerkennung oder Überlastung der Maintainer.
  • API-Qualität: Anteil Schnittstellen mit gültigem OpenAPI-Schema und Tests. Schwache Werte behindern Wiederverwendung; Schulungen und API-Linting helfen.
  • Redundanz-Index: Zahl paralleler Codebasen mit gleichem Zweck. Ein Rückgang zeigt gelungene Standardisierung.
  • Wirtschaftlicher Effekt: Geschätzte Einsparungen an Zeit, Lizenzen und Aufwand. Diese Daten liefern Argumente für Investitionen in gemeinsame Plattformen.
  • Community-Engagement: Zahl aktiver Maintainer und Foren-Beiträge. Ein lebendiges Ökosystem ist der beste Indikator für nachhaltige Kultur.

Diese Metriken bilden eine Kaskade:
Operative Werte (z. B. Reuse-Quote) fließen in taktische KPIs (z. B. Entwicklungszeit, Stabilität) und schließlich in strategische Effekte (z. B. Kosteneffizienz, digitale Reife).
So entsteht ein kontinuierlicher Lernkreislauf: messen, verstehen, anpassen.


4. OKRs als Detailblick – Wiederverwendung messbar führen

OKRs sind das Bindeglied zwischen Strategie und Umsetzung.
Sie geben der Wiederverwendung Richtung, Priorität und Feedback.
Gute OKRs beschreiben nicht, was jemand tut, sondern welche Wirkung daraus entsteht.

Warum OKRs entscheidend sind:
Sie machen Wiederverwendung verbindlich, sichtbar und iterativ.
Jedes Team trägt zum gemeinsamen Ziel bei, Fortschritte werden messbar und Unterschiede erkennbar.
Wenn Key Results verfehlt werden, liefert das Hinweise auf strukturelle Barrieren – nicht auf persönliches Scheitern.
So wirken OKRs als Lernsystem innerhalb der Governance-Struktur.

Beispiele auf drei Ebenen:

  1. Strategisch:
    Objective: Wiederverwendung wird zum zentralen Prinzip digitaler Souveränität.
    Key Results: Die Reuse-Quote steigt um 25 Prozent; drei Großprojekte basieren auf wiederverwendeten Modulen; alle Fachverfahren dokumentieren eine Reuse-Prüfung; das Reuse-Dashboard ist Bestandteil der Management-Berichterstattung.
  2. Taktisch:
    Objective: Wir erhöhen die Wiederverwendung innerhalb unserer Plattform.
    Key Results: 80 Prozent aller Module erfüllen den API-Standard; drei Module werden von anderen Teams genutzt; für jedes Modul ist ein Maintainer benannt; die Time-to-Reuse sinkt um 20 Prozent.
  3. Operativ:
    Objective: Wir tragen aktiv zur Reuse-Community bei.
    Key Results: Jedes Team leistet einen dokumentierten Beitrag; 50 Prozent der APIs sind automatisiert getestet; alle wiederverwendeten Module sind vollständig dokumentiert; Feedback-Zyklen mit Nutzern sind etabliert.

OKRs als Lernsystem:
Sie sind kein Kontrollinstrument, sondern ein Dialogsystem.
Verfehlte Ergebnisse zeigen, wo Prozesse, Rollen oder Schulungen verbessert werden müssen.
So entsteht ein kontinuierlicher Lernzyklus – messbar, transparent und gemeinschaftlich.

Integration in Governance:
OKRs sollten regelmäßig reflektiert werden – in Architekturboards, Portfolio-Steuerungen oder Jahresgesprächen.
Erfolgreiche Teams und Projekte können ausgezeichnet werden, etwa durch einen „Reuse Award“.
Damit wird Wiederverwendung zu einem sichtbaren Teil der Leistungskultur.

 

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